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Samstag, 13. September 2003


 

Werner Baumann blättert im Buch, das seine Familie für ihn drucken ließ. Darin hat er seine Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft notiet. Foto: SZ/Gröning 



Das Urteil
Mit 96 Jahren hat Werner Baumann aus Hoyerswerda noch einen besonderen Wunsch – er will nicht länger zum Tode verurteilt sein
Von Stefan Schirmer

Ehe der alte Mann bereit war, sein Geheimnis preiszugeben, musste erst die Mauer fallen und seine Familie ins Grüne fahren. Dieter Baumann erinnert sich noch gut an diesen Ostersonntag Anfang der 90er Jahre, als ihn sein Vater in der Idylle der Familien-Datsche bei Hoyerswerda besuchte und beide zu einem langen Spaziergang aufbrachen. Es war Feiertag, die Natur blühte und die Welt brummte voller fröhlicher Ausflügler, doch der alte Mann redete über so düstere Themen wie Stalin und den Zweiten Weltkrieg. Es musste nun endlich heraus: Werner Baumann erzählte Details aus seiner Zeit in sowjetischen Gefangenenlagern, wo man ihm sieben Jahre seines Lebens gestohlen hatte. Als der Sohn dann, bis ins Mark erschüttert, wieder in der Datsche stand, wusste er: Ich habe einen verurteilten Kriegsverbrecher zum Vater. Zumal einen, der nichts für dieses Urteil kann.

Ich bin inzwischen Rentner! Merk dir das“

Eine Plattenbausiedlung in Hoyerswerda, 5. Stock. Der alte Herr hat Kaffee gekocht, in dem der Löffel steht. Er ist wie immer um halb fünf aufgestanden, hat geputzt, gebügelt, die Sächsische Zeitung gelesen und sie pünktlich um sieben Uhr dem Sohn, der ein Stockwerk unter ihm wohnt, übergeben. Berichte, die er besonders lesenswert fand, sind rot angestrichen. Der Vater hat so seine Marotten, sagt der Sohn, der nach oben in die Wohnung gekommen ist.

All die Jahre dachte er, diesen erstaunlich rüstigen Mann von heute 96 Jahren in- und auswendig zu kennen: Selbst Eigenheiten, etwa dass der Senior nachts Boxkämpfe im Fernsehen aufzeichnet. Dass er akribisch alle Stromrechnungen der vergangenen 30 Jahre archiviert hat. Oder nach welchem inneren Kalender er den Friedhof besucht. „Manchmal nennt er mich: ,Mein Kleiner’“, erzählt Sohn Dieter Baumann, 65. Er lächelt. „Ich sage ihm dann jedes Mal: ,Ich bin inzwischen Rentner! Merk dir das!’“ Die beiden sind eng miteinander. Es hat sie letztlich noch mehr zusammengeschweißt, was sich vor einem halben Jahrhundert zutrug – weitab von Hoyerswerda und fern von beider Vorstellungskraft.

Werner Baumann, geboren in Leipzig, SA-Mitglied seit 1930 und von Beruf Ingenieur in der Braunkohle-Industrie, war bei Kriegsende als Gefreiter an der Westfront in Frankreich. Erst griffen ihn Amerikaner auf und steckten ihn in Kriegsgefangenschaft. 1946 kam er für einige Wochen nach Hause und wurde im April von den Russen verhaftet. Danach durchlief er mehrere sowjetische Lager. Er schuftete in einer Teerfabrik, brach Steine, baute von Deutschen zerstörte Häuser wieder auf. Er litt Hunger, Kälte, Einsamkeit, Heimweh. Wie ihm erging es vielen Wehrmachtssoldaten im Osten – annähernd drei Millionen waren in sowjetischer Hand. Doch als Ende 1949 die letzten Gefangenen heimkehren sollten, wie es die Siegermächte vereinbart hatten, da trennte sich Baumanns Lebensweg von dem der Masse und geriet auf eine bizarre Bahn. Es geschah am zweiten Weihnachtsfeiertag 1949 im Lager bei Rostow am Don. Werner Baumann, damals 43, war mit weiteren Männern in eine Fabrikhalle gebracht worden. Bei starkem Kaffee am Wohnzimmertisch in Hoyerswerda erinnert er sich an jedes Detail, als wäre es gestern erst gewesen: „Sprechen und Rauchen war uns streng verboten. Laufend wurden Kriegsgefangene aufgerufen, sie verließen die Halle, kamen aber nicht mehr zurück.“

Dann war er dran. Wurde in ein Zimmer geführt. Vor drei Offiziere und einen Schreiber, dahinter eine Sowjet-Flagge. Dem Deutschen dämmerte, dass er gerade eine Gerichtsverhandlung betreten hatte – seine eigene. Schon verlas der Militärrichter das Urteil: Als Angehöriger von Hitlers NSDAP, die als Verbrecher-Organisation zu gelten habe, werde Baumann zum Tode verurteilt. Das Ganze dauerte kaum fünf Minuten. Auch neun Kameraden waren Todeskandidaten Werner Baumann macht eine Pause beim Erzählen. Seine Hände zittern leicht. Hände, die Miniatur-Landschaften gleichen: Knöchel wölben sich wie Hügel, Äderchen verlaufen wie Flüsse, Altersflecken zeichnen sich wie Seen ab. Die Landschaft bebt. Baumann schaut durch seine tassendicke Brille und scheint die Verblüffung seines Besuchers zu genießen. Gerade sollte er berichten, ob ihm am Tag seines Todesurteils nicht Angst und Bange war? „Nein“, sagt er. „Ich traf neun Kameraden, die ebenfalls gerade zum Tode verurteilt worden waren. Wir haben darüber gelacht.“ – Ach so? „Ja, uns war klar, wir werden als Arbeitskräfte gebraucht.“ So machten es die Russen mit Tausenden.

Es dauerte noch drei quälend ungewisse Jahre, bis Werner Baumann dann doch nach Hause durfte. Kurz nach Stalins Tod kam er 1953 zurück nach Sachsen, mit zwei Holzkoffern voll russischem Machorka-Tabak, gepresst wie Briketts und gekauft vom gesamten Häftlingslohn. „Der Tabak hat bis 1956 gereicht“, erinnert sich der Sohn, „die Koffer liegen noch unter Vatis Bett.“

Er wusste damals nicht, dass der Spätheimkehrer aus seiner Gefangenschaft auch eine erdrückende Last mitgebracht hatte: Er dürfe zu Hause niemals über das Todesurteil sprechen, hatten sie ihm eingebläut, bevor er freikam – das dunkle Kapitel passte so gar nicht ins heroische Bild vom großen Bruderstaat. Erst an jenem Ostertag 1990 brach er sein Schweigen. „Ich war erschüttert“, sagt sein Sohn, „dass ein Mensch so etwas fast 40 Jahre mit sich herumschleppt. Er hat es in sich reingefressen.“

Im Fernsehen sah Werner Baumann vor Jahren den Mehrteiler „Soldaten hinter Stacheldraht“ über deutsche Kriegsgefangene. Seitdem lässt ihn seine eigene Geschichte nicht mehr los. Er bekam mit, dass in Moskau einschlägige Archive geöffnet wurden. Über eine Liga der Russisch-Deutschen Freundschaft erhielt er 1999 eine Kopie seiner Lagerakte. Er schiebt den Stapel Papier vorsichtig über den Wohnzimmertisch. Mit 92 Jahren hatte er sie erstmals in Händen: diese Dokumente, die sein loses Bündel Erinnerungen nun mit einem tragenden Skelett aus Daten festigten.

Er hatte noch mehr Glück. Er fand es im vorigen Jahr in einem alten Schuhkarton, nun lagert der Schatz im Wohnzimmerschrank, geschützt von Klarsichthüllen: 60 Postkarten, dicht bekritzelte Pappen, die er aus der Gefangenschaft an seine Frau und die beiden Kinder schicken durfte. „Meine drei Herzallerliebsten“, steht auf mehreren. Und dass es nun bestimmt nicht mehr lange dauere, bis er zurückkomme. Am 17. Februar 1948 ist er sich dessen so sicher, er bestellt bei seiner Frau schon die Wiedersehens-Mahlzeit: „Wie freue ich mich, wenn du mir wieder Bratkartoffeln oder grüne Klöße mit Braten vorsetzen wirst, und wenn er auch von Thormanns ist“ – dem Pferdefleischer. „Als ich die Karten gelesen habe“, sagt Sohn Dieter, „da hat’s mir das Herz zerruppt.“ Wahrscheinlich wäre es bei solchen Reminiszenzen geblieben, hätte nicht vor einiger Zeit in Dresden bei Klaus-Dieter Müller von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten das Telefon geklingelt. Das spezielle Geschenk zum 95. Geburtstag

Am Apparat war ein Mann um die 30. Ein Enkel von Werner Baumann. Er wolle seinem Opa zum 95. Geburtstag ein besonderes Geschenk machen,einen Herzenswunsch erfüllen – den alten Mann rehabilitieren lassen. Historiker Müller hat da Erfahrung. In seinem Büro sitzt er vor einem Monitor, über den auf Knopfdruck Buchstabenkolonnen laufen wie der Abspann eines Films. Die Datenbank deutscher Kriegsgefangener. „Da haben wir ihn“, ruft Müller, „Baumann, Werner August.“ Man wisse bis heute nicht, wie die Soldaten für die Schnellprozesse ausgesucht wurden, sagt er: „Wahrscheinlich hatte Herr Baumann einfach nur Pech. Jedenfalls sticht in seinem Fall besonders ins Auge, wie unhaltbar das Urteil ist.“

Müller hat einen Rehabilitierungs-Antrag an die Militärstaatsanwaltschaft in Moskau geschickt. Er kennt dort einige Staatsanwälte und war schon öfter im LagerArchiv, das einst deutsche Kriegsgefangene bauen mussten. Und er weiß, dass es nicht einfach wird, dieses Todesurteil aus der Welt zu schaffen, weil die Russen die Schnellprozesse an sich nicht für rechtswidrig halten. Sie prüfen nach Aktenlage, ohne Sentimentalitäten. In den nächsten Wochen soll ein Bescheid aus Moskau kommen.

Werner Baumann wartet. Morgens spielt er oft Gameboy, um die Geschicklichkeit seiner Finger zu trainieren. Durch den Kopf gehen Erinnnerungen an die Zeit der Gefangenschaft. Auf dem Papier steht sein Todesurteil. Der Kampf dagegen hält den 96-Jährigen lebendig.

Quellenvermerk: Sächsische Zeitung, 13.09.2003, Seite 3 www.sz-online.de

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